Der „sehende“ Handschuh – Jakob Kilians preisgekrönte Bachelor-Arbeit
Donnerstag, 8. November 2018 | Text: Jörg-Christian Schillmöller | Bild: Oliver Köhler
Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten
Nachmittags, auf der Mainzer Straße. Ich bin auf dem Nachhauseweg. Vor mir steht ein junger Mann mit Augenmaske auf dem Mittelstreifen. Die linke Hand hält er waagerecht vor dem Bauch. Er trägt einen schwarzen Handschuh, auf dem kleine silberne Knöpfe leuchten. Ziemlich spacig. Ein Kabel führt von seinem Arm in einen Rucksack. Ein anderer junger Mann filmt und fotografiert alles. Ich frage, was die beiden tun. Der Fotograf heißt Jakob Kilian. Er macht Bilder für seine Webseite. Denn es ist sein Projekt, mit dem er kurz darauf den Kölner Design Preis 2018 gewinnen wird.
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Hacker & Partner – Ausgezeichnete SteuerberatungSeine Idee: Der schwarze Handschuh kann sehen. Das Projekt ist Jakobs Bachelor-Arbeit an der Köln International School of Design, der KISD in der Südstadt. Der Titel: „Unfolding Space – see with your hands“. Sehen, das bedeutet: Der Handschuh erfasst Bilddaten aus der Umgebung und überträgt sie als Vibrationen über die silbernen Knöpfe auf den Handrücken. Der urbane Raum wird erfahrbar. Zum Beispiel für blinde Menschen.
Klingt kompliziert, ist aber einfach
Ende Oktober treffe ich Jakob im Museum für Angewandte Kunst in der Innenstadt wieder. Hier im Museum wird sein Projekt bis zum 18. November ausgestellt – zusammen mit den knapp 30 anderen nominierten und gekürten Arbeiten. Jakob ist 25 Jahre alt. Ein gewissenhafter, zugewandter Mensch, der sich Gedanken über die sensorische Substitution gemacht hat. Klingt kompliziert, ist aber einfach: Wie kann man einen Sinn durch die Stimulation eines anderen ersetzen? Jakob hat an der KISD „Integrated Design“ studiert, und sein Konzept hat mit Inklusion zu tun. Es geht um neue Möglichkeiten für blinde Menschen, sich besser in der Umgebung orientieren können. Die Idee der sensorischen Substitution ist Jahrzehnte alt. Aber, sagt Jakob, die Ergebnisse der Forschung waren oft kompliziert. Sie waren zudem teuer und nicht besonders nutzerorientiert.
Mit seinem Ansatz versucht er das Gegenteil. Jakob hat den Design Preis nicht nur bekommen, weil sein scharzer Handschuh ziemlich cool aussieht. Wichtiger war, dass das Projekt niederschwellig ist. Geringer Preis, einfaches Konzept, positives Erleben. Der Handschuh kostet nur 500 Euro. Damit ist er im Vergleich zu anderen Hilfsmitteln billig. Das System ist schnell zu erlernen – auch für ältere Menschen. Und, besonders wichtig: Es ist eine angenehme Erfahrung, den Handschuh zu nutzen.
Es vibriert auf dem Handrücken
Das probiere ich aus, unten in der großen Halle des MAKK, zwischen ein paar großen Säulen und einem silbernen Mercedes 300 SL mit Flügeltüren. Ich ziehe den Handschuh an, Jakob verbindet die Kabel und setzt mir den Rucksack auf. Ich schließe die Augen. „Was passiert?“, fragt Jakob. Es vibriert von links nach rechts auf den neun Knöpfen. Das heißt: Jakob ist durchs Bild gegangen. Langsam gehe ich nun selbst los, die Hand vor dem Bauch. Jakob korrigiert meine Haltung. Ich bewege den Handschuh nach links, nach rechts: Ich sehe mich um. Es vibriert in der Hand, da ist etwas direkt vor mir, es vibriert stärker: Ich öffne die Augen und stehe vor einer Säule. Wow, denke ich.
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Tanzetage Köln – Jeder Mensch ist ein TänzerJakob klappt sein Laptop auf und erklärt mir die Technik. Der Handschuh ist mit einer Kamera ausgerüstet. Die Kamera erzeugt ein Tiefenbild des Raumes. „Das ist wie ein Echolot mit Licht“, sagt Jakob. Die Kamera sendet Lichtimpulse, um die Entfernung zu den Dingen zu messen. Auf Jakobs Bildschirm sehe ich den Ausstellungsraum in bunten Farben: orange und rot heißt nah, blau heißt weiter weg. Die Daten der Kamera werden dann so verarbeitet, dass die Knöpfe auf dem Handschuh unterschiedlich vibrieren.
„Der Handschuh ist erstmal nur ein tool“
Ich frage Jakob, ob er den Handschuh schon mit blinden Menschen getestet hat. Nein, sagt er. Er weiß, dass ihn das womöglich angreifbar macht, aber er hält es dennoch für richtig und hat das auch ganz bewusst entschieden. „Über den Algorithmus für die Technik kannst Du schlecht mit fachfremden Menschen reden. Du brauchst eine Grundlage. Der Handschuh ist erstmal nur ein tool, ein Kommunikationstool.“
Anders gesagt: Jakob wollte erst den Prototypen entwickeln. Im nächsten Schritt stellt er sich nun den Austausch vor: mit Forschern, um seinen Programmiercode verbessern. Und mit blinden Menschen, die den Handschuh erproben. Niederschwellig heißt auch: Jakobs Projekt ist ein Open-Source-Projekt. Das heißt: Der Code ist für alle zugänglich. „Ideal wäre es“, sagt er, „wenn sich andere Menschen das nun vorknöpfen, es kommentieren, es verbessern – und das Ergebnis dann selbst wieder als open source lassen“.
Bleibt die Inklusion, also die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am öffentlichen Leben. In Jakobs theoretischer Vorarbeit geht es auch um Implantate, um künstliche Sensorik – unter Inklusionsaktivisten durchaus umstritten. „Vieles davon ist invasiv und teuer“, sagt Jakob. Ihm war es wichtig, eine Orientierungsfähigkeit ohne einen irreversiblen Eingriff zu entwickeln. Darum der Handschuh, den man einfach an-, aber eben auch wieder ausziehen kann.
„Es könnte eine tolle Ergänzung sein“
Ich rufe Michael Thiedeke an, einen Kollegen vom Deutschlandfunk. Er ist blind und arbeitet seit 40 Jahren beim Sender, wo er aus Interviews Manuskripte macht. Michael ist begeistert. „Das Projekt klingt sehr interessant“, sagt er. „Es könnte eine tolle Ergänzung sein für einen Nicht-Sehenden, der sich schon auf anderer Basis fortbewegt, also mit Hilfe des Gehörs oder einem Rest Sehvermögen. Das durch einen Handschuh zu ergänzen und auszuweiten, das wäre eine Sensation“. Sprich: Michael wäre bei einem Test dabei. Er sieht Jakobs Projekt als positive Entwicklung für die selbständige Orientierung, ohne auf andere angewiesen zu sein. Auch gefällt es Michael gut, dass der Handschuh kein Implantat ist. „Meine Finger brauche ich ja auch, um Blindenschrift zu lesen. Wenn da noch Sensoren eingebaut würden, dann wäre das eine Sinnesüberflutung.“ Jakob Kilian ist schon für den nächsten Preis nominiert, den „Lucky Strike Designer Award“. Er plant gerade die nächste Version seines „sehenden“ Handschuhs. Wer sich für seine Arbeit interessiert, findet alle Infos auf seiner Internetseite. Und kann mithelfen, den Handschuh noch besser zu machen.
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