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Kolumne

Thilo Sarrazin in der Südstadt

Donnerstag, 14. Oktober 2010 | Text: Stephan Martin Meyer

Geschätzte Lesezeit: 4 Minuten

Was haben wir mit Thilo Sarrazin gemeinsam? Erstmal denken wir: Nichts! Mit dem doch nicht. Aber geistert er nicht längst durch unsere Köpfe? Haben wir nicht schon lange einen Teil seiner Gedanken verinnerlicht? Müssen wir uns nicht auch an die eigene Nase fassen, bevor wir ihn ablehnen?

Was haben wir mit Thilo Sarrazin gemeinsam? Erstmal denken wir: Nichts! Mit dem doch nicht. Aber geistert er nicht längst durch unsere Köpfe? Haben wir nicht schon lange einen Teil seiner Gedanken verinnerlicht? Müssen wir uns nicht auch an die eigene Nase fassen, bevor wir ihn ablehnen?

Wie sagte doch der Vizechef der türkischen Zentralbank, Ibrahim Turhan, angesichts der Sarrazinschen Integrationsunfähigkeit arabischer und türkischer Einwanderer so schön: „Allah möge ihm mehr Verstand geben.“ Das war 2009. In der Zwischenzeit hat Thilo Sarrazin ein Buch geschrieben, das sich die gesamte linksalternative Fraktion nun umsatzsteigernd zulegt, weil sie in ihrem kritischen Denken erst einmal nicht glaubt, was die Presse schreibt. Prinzipiell ein guter Ansatz. In der Praxis nicht förderlich, denn so wird die Publikation von Thesen honoriert, die mich schwer schlucken lassen. Da kommt ein Mann daher und will unter anderem junge Akademikerinnen für die Geburt eines Kindes finanziell belohnen, unter der Maßgabe, dass sie den richtigen Genpool haben.

Autsch!

Das will ich nicht schlucken, das kommt ja direkt wieder nach oben. Man stelle sich das doch bitte einmal bildlich vor: Der Lebensborn wird wieder zum Leben erweckt. Blasse, ganz in grau gekleidete Herren schleichen ab sofort durch die tageslichtlosen Betonhallen der Kölner Universität und halten Ausschau nach reinrassigen deutschen Mädels. Sie pirschen sich von hinten an die kop(ul)ierenden Germanistinnen heran, hauchen ihnen Fragen nach der Herkunft ihrer Großeltern in den Nacken. Und wenn die Proseminarbesucherinnen schreckensstarr und angstverschwitzt die richtige Antwort gegeben haben (katholisch, in direkter Linie von Karl dem Großen abstammend, niemals Schweinkram mit einem Muslim oder gar Juden treibend), dann greift der vom Vater Staat bezahlte Fragenhaucher blitzschnell in die klitzekleine Handtasche und tauscht die 28 Tabletten zählende Pillenpackung gegen einen 1000-Euro-Schein aus. Und schon ist er wieder weg, lässt die verwirrt auf den Kopierer starrende, angehende Belletristiklektorin mit ihrem Schicksal zurück.

Und schon haben wir den Salat: Ab sofort wird unsere Umwelt übervölkert mit blassgesichtigen, in einem endlosen Reigen kopulierenden und sich reproduzierenden Germanistinnen. Eine herrliche Vorstellung vom Weltuntergang.

Aber das machen wir jetzt damit? Leider, leider müssen wir uns an die eigene Nase fassen. Es bleibt uns nichts anderes übrig.

Den Sarrazin und seine Thesen verdammen wir (ich zumindest, ob ihr das tut, sei euch selbst überlassen. Aber dieses „wir“ hört sich irgendwie kollektiver an…). Und zwar in Bausch und Bogen. Na gut, wir geben 22 Euro und 99 für das Buch aus (hier ist das „wir“ mal nicht auf mich bezogen), weil wir es ja genau wissen wollen. Blöderweise stolpern wir dann auf dem Weg von der Buchhandlung zum türkischen Gemüsehändler über diesen etwas streng riechenden minderjährigen Rumänen, der seit einer Woche vor dem Bankautomaten am Chlodwigplatz sitzt.

Da wir genau wissen, wie die rumänische Mafia arbeitet – der Vater parkt mit seinem Benz um die Ecke, nimmt seinem Sohn das Geld ab und hebt die Sozialhilfe, die jetzt nicht mehr Sozialhilfe und auch nicht Hart IV, sondern ganz banal ALG II heißt, vom Konto ab um danach seine Frau mit dem Säugling aus Stoff und die aggressiv bettelnde Tochter in der Schildergasse aufzulesen – blicken wir den Jungen verärgert an und geben ihm: Nichts. Dieses Verhalten wollen wir nicht auch noch unterstützen. Können die nicht woanders die Straße verunstalten?

Schnell steigen wir in die Bahn, um der Situation zu entkommen. In die 16. Einmal Mülheim und zurück. Nein, so weit brauchen wir gar nicht fahren. Denn schon auf halbem Weg steigen diese beiden etwas düster ausschauenden jungen Männer ein, die leise in einer slawischen Sprache miteinander reden. Da wir kein Wort verstehen, bleibt uns nur die Beobachtung und die Phantasie, um uns ein Urteil zu bilden. Der Kleidung, den Gesichtszügen und den Frisuren zufolge sind es wohl Russen. Oder Ukrainer. Wer kann die schon unterscheiden? Russlanddeutsche? Spätaussiedler? War da nicht mal dieser Skandal um Joschka Fischer und scheinbar willkürlich verteilte Visa? Dann sind die beiden bestimmt nicht legal hier. Wie die wohl ihren Lebensunterhalt verdienen? Unwillkürlich wird der Griff um die Tasche ein kleines Bisschen fester. Ist das Handy noch da? Und das Portmonee?

Und schon ist es passiert. Wir alle sind Sarrazin. Bei uns soll kein rumänischer Junge betteln. In der Innenstadt, ja, da ist das in Ordnung. Aber nicht bei uns am Chlodwigplatz. Außerdem wäre alles viel einfacher, wenn die beiden in der Bahn einfach Deutsch lernen würde. Dann wüssten wir, dass sie sich nur über ihre juristischen Hausarbeiten unterhalten.

Wir brauchen Thilo Sarrazin, um dem Bösen, das in uns wohnt, ein Gesicht zu geben. Wir brauchen die Bilder von den sich ununterbrochen reproduzierenden Muslimen, um nicht auf die Gewalt unseres ureigenen bürgerlichen Antlitzes zu blicken.

Doch das ist fatal. Was wären wir ohne die Migranten? Wer würde die Arbeit machen, die wir heute nicht mehr selber machen wollen? Wer wird demnächst unsere Renten bezahlen, wenn sie Berechnungen der Demografen stimmen? Wir brauchen die Ausländer bei uns im Viertel, wenn wir nicht mittags bei Currywurst und Bratkartoffeln fett werden wollen. Wir brauchen sie auch, weil uns jede Begegnung mit einer rumänischen Frau im weiten Glockenrock vor Augen hält, dass die Menschen unterschiedlich sind. Dass es keinen Einheitsmenschen gibt und hoffentlich auch nie geben wird.

Für die Generation meiner Oma waren der Franzose der Erzfeind. Das ist gerade einmal 70 Jahre her. Heute ist ein gutes Essen ohne Merlot und Baguette kaum vorstellbar.

Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren unter anderem durch die hoch entwickelte Fähigkeit zur Kommunikation. Nutzen wir sie. Fragen wir die Rumänen und Russen, die Somalier und Türken, wie sie leben. Welche Träume sie haben. Und akzeptieren wir sie als eine Bereicherung unserer Gesellschaft, anstatt Angst vor ihnen zu haben und uns von Bundesbankern irrwitzige Ideen in den Kopf setzen zu lassen.
 

Text: Stephan Martin Meyer

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