Mit Gerhart Baum an der Käsetheke
Donnerstag, 3. November 2022 | Text: Reinhard Lüke | Bild: bce fims / Reinhard Lüke
Geschätzte Lesezeit: 2 Minuten
Der Politiker, Anwalt, Kulturförderer und Südstädter ist 90 geworden
Es gab eine Zeit, da stand ich oft samstags neben Gerhart Baum an der Käsetheke. Es muss 1981 gewesen sein und der Politiker wohnte damals wie ich im Agnesviertel. Vor dem schmucklosen Haus an der Inneren Kanalstraße stand rund um die Uhr ein Polizeiwagen. Schließlich war der Mann damals Bundesminister des Innern und musste dementsprechend beschützt werden.
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Die Wagenhalle – außergewöhnliches Gasthauserlebnis in historischem AmbienteAber so es seine Zeit erlaubte, ließ Baum es sich nicht nehmen, samstags den Supermarkt hinter der Kirche aufzusuchen. Ob der Minister drin war, erkannte man immer an den zwei auffällig unauffälligen Männern mit Sonnenbrillen, die demonstrativ gelassen am Eingang rumstanden.
Gefeiert wird im Brauhaus
Heute braucht Gerhart Baum beim Einkaufen in der Südstadt keine Bodyguards mehr. Und er wird sie auch kaum vermissen. Seit mehr als 20 Jahren wohnt er am Ubierring, am Samstag ist er 90 Jahre alt geworden und hat seinen Geburtstag nicht in einem Nobelrestaurant, sondern in seiner Stammkneipe, dem Früh im Veedel, gefeiert. In den letzten Wochen hat das FDP-Urgestein anlässlich seines Jubiläums zahlreiche Interviews gegeben. Schließlich ist der umtriebige Mann auch Jahrzehnte nach seinem Ausstieg aus dem Bundestag ein gefragter Gesprächspartner.
Dokumentarfilm und Gespräch im Odeon
Vorgestern stellte sich Gerhard Baum im gut gefüllten Odeon den Fragen des Moderators, Grünen- MdL Arndt Klocke, und des Publikums. Vorab gab es den Dokumentarfilm „Wir wollten die Republik verändern“ von Bettina Erhardt zu sehen, der das (Politiker-)Leben Baums nachzeichnete, aber bereits zu dessen 80. Geburtstag gedreht wurde. Anhand der zahlreichen Archiv-Sequenzen wurden vor allem die Konflikte des Linksliberalen mit seiner eigenen Partei deutlich, der 1982 schließlich zum Ausscheiden aus dem Ministeramt führte.
Nach dem von seinem Parteichef Hans-Dietrich Genscher herbeigeführten Bruch der sozialliberalen Koalition wollte Gerhart Baum unter Helmut Kohl kein Amt übernehmen. Seitdem hat er für diverse Menschenrechtsorganisationen gearbeitet und klagt als Anwalt auch heute noch immer wieder gegen die BRD. Etwa gegen die Vorratsdatenspeicherung, und noch in diesem Jahr vertrat er erfolgreich die Hinterbliebenen der Opfer des Olympia-Attentats von 1972, für die er eine Entschädigung erreichte.
Leiden an der FDP
Im Odeon legte sich Gerhard Baum vorgestern zunächst einmal für die Kultur ins Zeug, rief die Zuhörer auf, die noch immer unter den Folgen von Corona leidenden Kinos, Theater und Konzerthäuser zu besuchen. Erkennbar eine Herzensangelegenheit für Baum, der nach wie vor in mehreren kulturellen Gremien der Stadt und des Landes aktiv ist. Und hinsichtlich des Krieges in der Ukraine, mahnte er, das russische Volk nicht mit Putin gleichzusetzen. „Russland ist eine Beute Putins“, so Baum. Und natürlich wurde er auch mehrfach aufgefordert, seine Einschätzung zur aktuellen Lage der FDP abzugeben. Und die kam dabei nicht sonderlich gut weg.
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BagatelleDass Gerhart Baum kein glühender Fan von Christian Lindner ist, wurde dabei zwar nur zwischen den Zeilen deutlich, aber ansonsten hielt er mit Kritik an seiner Partei nicht hinter dem Berg. Die jüngsten Niederlagen bei Landtagswahlen immer nur schulterzuckend mit dem Argument abzutun, man sei halt in einer Koalition mit zwei Linksparteien gefangen, halte er für fatal. Überhaupt vermisse er unter dem Vorsitzenden eine innerparteiliche Diskussionskultur, in Sachen Ökologie habe man bislang überhaupt keine eigenen Ansätze entwickelt und in der Außenpolitik sei das nicht anders. Grundsätzlich bedaure er, dass von der FDP „kein Wärmestrom, keine Hinwendung zu den Menschen“ ausgehe.
WM-Spiele schauen oder nicht schauen
So hatte der 90jährige eigentlich zu jedem Thema eine dezidierte Meinung und ließ selbst am Ende der dreistündigen Veranstaltung keinerlei Müdigkeit erkennen. Nur in Sachen Fußball-WM gab er sich unentschieden. Natürlich sei es ein Skandal, dass die WM in einem solchen Schurkenstaat stattfinde. Aber dafür seien allein die korrupten FIFA-Funktionäre verantwortlich. Die Kicker wollten doch nur Fußball spielen. Wobei natürlich die Frage bleibt, ob man unter solchen Rahmenbedingungen einfach nur spielen kann. Er selbst, so Baum, habe sich jedenfalls noch nicht entschieden, ob er sich die Partien anschauen werde oder nicht. Womit er nicht allein stehen dürfte.
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Kommentare
Danke für die Erinnerung, was Politik einst ausgemacht hat. Ja, es sind andere Zeiten. Aber es waren auch andere “Typen”, die damals am Ruder oder an der Käsetheke standen.