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Kultur

Im Irrgarten des Lebens

Freitag, 15. Juni 2018 | Text: Jörg-Christian Schillmöller | Bild: Dirk Gebhardt

Geschätzte Lesezeit: 5 Minuten

Der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff ist tot. Er starb im Alter von 92 Jahren, wie sein Verlag Kiepenheuer&Witsch bestätigte. Wellershoff lebte seit vielen Jahren in der Südstadt, in der Mainzer Straße.

Unser Redakteur Jörg-Christian Schillmöller hat ihn mehrfach getroffen und auch für „Meine Südstadt“ interviewt. Zu Wellershoffs 90. Geburtstag hat er den folgenden Text geschrieben, den wir darum an dieser Stelle noch einmal veröffentlichen. Mit Wellershoff ist einer der ganz großen kulturellen Köpfe der Südstadt gestorben.

Diese beiden Menschen gehören zum Bestand der Südstadt: Marianne und Dieter Wellershoff. Mal sehe ich sie gemeinsam, mal allein. Mal steigen sie – festlich gekleidet – am Eierplätzchen aus einem Taxi. Mal sitzt er mit jemandem im Café am Römerpark oder geht hinüber zum Briefkasten, mal sehe ich sie mit dem Handwägelchen auf dem Weg zum Bioladen in der Mainzer Straße, gut gelaunt und aufmerksam.

Dieter Wellershoff wohnt drei Häuser weiter und ist von heute an 90 Jahre alt. Damit ist er doppelt so alt wie ich. Ich habe den Vergleich in den vergangenen Jahren immer wieder gezogen, wenn ich ihn traf oder sah. Als ich 40 wurde, war er 85. Es hat mein Leben relativiert: Wer denkt, er habe viel erlebt, braucht nur mit Dieter Wellershoff zu sprechen, dann erledigt sich das.

Sein Anschlag auf der Schreibmaschine war knackig

Ich habe das Glück, ihn lange zu kennen. Die erste Berührung hatte ich im Sommer 1993, als ich in Bonn studierte. In einem Fernseh-Seminar drehten wir einen Probefilm, eine Dokumentation. Es wurde ein Minifeature über Dieter Wellershoff. Schon damals wohnte er in der Kölner Südstadt. Mir war das Viertel fremd, aber ich erinnere mich an sein Arbeitszimmer, das ich Jahre später wiedersehen sollte.

Es liegt ganz hinten, am Ende der Altbauwohnung in der Mainzer Straße. Dort steht ein Schreibtisch mit Blick durchs Fenster auf eine Mauer. Backstein, Innenhof. Keine Ablenkung. Es gibt von den Filmaufnahmen eine VHS-Cassette. Ich habe sie vor ein paar Tagen auf DVD brennen lassen. Wellershoff sieht jung aus, energiegeladen. Sein Anschlag auf der Schreibmaschine ist knackig, bestimmt. Damals war er 67 und fast dreimal so alt wie ich. Und er schrieb noch an der Schreibmaschine. Ich an der Uni auch.

Dieter Wellershoff hat in seinem Leben jede Sorte Text ausprobiert. Er hat Hörspiele für das Radio geschrieben, Erzählungen und Romane. „Der Liebeswunsch“ erschien 1999, es war sein größter Erfolg, eine Vierecksgeschichte. Es war das Jahr, in dem ich nach Köln zog, in eine sehr kleine Wohnung am Rande des Luxusviertels Marienburg. Irgendwo in dem Viertel steht ein Haus, das Dieter Wellershoff für den Roman als Vorlage diente. Ich bin abends oft spazieren gegangen und habe danach gesucht und mir vorgestellt: Hier war es vielleicht.

Verbannte Erfahrungen ermöglichen

So hat Wellershoff immer gearbeit: Er entnahm dem Alltagsleben die Menschen und Orte. Und dann konfrontierte er die Menschen an diesen Orten mit Grenzerfahrungen, mit lebensbedrohlichen Krisen. Die Literatur ist für ihn ein Experiment, ein Versuchslabor. Sie ist nicht abgekoppelt von der Wirklichkeit, aber dennoch freier, offener und konsequenter. Wellershoff wird bis heute als Gründer einer „Kölner Schule des neuen Realismus“ beschrieben. Realismus ist für ihn – schrieb er einmal – „der immer neue Versuch, etablierte Begriffe und Ordnungsgestalten aufzulösen, um neue, bisher verbannte Erfahrungen zu ermöglichen.“

Dieter Wellershoff – das hört man in diesem Zitat – hat immer am theoretischen Unterbau gearbeitet. Er hat viel über Literatur und Kunst nachgedacht. Seine Essays sind brilliant. Er analysiert Plots und Storys, Verwicklungen und Strukturen. Man versteht durch seine Worte vieles besser. Das gilt für literarische Werke ebenso wie für Kunstwerke. 

Wie weit sein Horizont reicht, kann man in „Was die Bilder erzählen“ nachlesen, der Untertitel sagt schon Vieles: „Ein Rundgang durch mein imaginäres Museum“. Die Texte sind kurz, manchmal nur ein paar Zeilen. Es sind Denkanstöße, Analysen, Erläuterungen. Es sind Geschichten über Künstler und Kunst. Und deren Wahrnehmung. Es sind Angebote, die Werke mit ihm gemeinsam zu betrachten – und danach durchaus einen anderen Zugang zu wählen.

Anna Karenina – ohne ääh und öööh

Als ich Dieter Wellershoff 2001 zum zweiten Mal traf, war ich gerade Redakteur beim Deutschlandfunk geworden. Ich war 31, Dieter Wellershoff Mitte 70. Immer noch eine ungeheure Lebensspanne zwischen uns. Ich besuchte ihn für unsere Reihe „Mein Klassiker“, die es bis heute gibt. Ich erinnere mich, dass ich fast nichts schneiden musste, kein ääh und öööh, kein Versprecher. Und eine sehr präsente Stimme. Er redete präzise, unprätenziös und auf den Punkt.

Als Klassiker suchte er sich „Anna Karenina“ von Tolstoi aus. Ich war perplex, dass jemand in so wenigen Sätzen dieses Denkmal von Roman erklären konnte: Die unerfüllte Ehe, der Ehebruch, der Verlust des Ansehens, die Zerstörung der Liebe. Die Verwandtschaft mit Emma Bovary und Effi Briest – und alles in einfachen Worten. Vielleicht sprach er so einfach, weil er lange genug darüber nachgedacht hatte.

Bei unserer dritten Begegnung im Jahr 2007 sprachen wir über sein Leben. Der Anlass war sein Buch „Der lange Weg zum Anfang“, eine Sammlung von Texten: biographische Gedanken, Reden zu Preisverleihungen, Interviews. Ich habe nie vergessen, wie er von seiner Kindheit erzählte: Er ließ sich im Auto immer wecken, wenn die Familie nachts durch Köln fuhr: Er wollte die Straßenbahnen sehen, die Leuchtreklamen, wenn sie heimfuhren nach Grevenbroich.

Vor dem Haus hielt ein BMW – mit Chauffeur

Er selbst wurde Lektor, das nennt er in einem seiner Texte ein „profanes Wunder“: Er hatte für den Verlag Kiepenheuer & Witsch ein Buch über Gottfried Benn verfasst. Und eines Tages im Jahr 1959 – er war schon mit Marianne verheiratet und hatte zwei Kinder und Geldsorgen – hielt ein BMW vor dem Haus, mit Chauffeur. Der Limousine entstieg Josef Caspar Witsch und bot ihm eine Stelle als Lektor an. Wellershoff sagte Ja.

Bei dieser dritten Begegnung sprachen wir auch über den Krieg und den Tod. Wellershoff war nun 81, ich war 37 – von dreimal so alt konnte keine Rede mehr sein. Die Zeit werde knapper, sagte er damals. Ich fragte ihn, ob er eine Patientenverfügung habe. „Ja, habe ich“, meinte er, „aber noch nicht vom Rechtsanwalt bestätigt.“ Seither ist schon wieder fast ein Jahrzehnt vergangen.

„Möchten Sie einen Kaffee trinken?“

Dieter Wellershoff ist inzwischen auch mit Stock zu sehen, aber er ist nicht aus dem Straßenbild verschwunden. Bei unserem letzten Interview – wieder bei ihm zu Hause – zeigte er uns seine ganze Wohnung, Zimmer für Zimmer, seine „Wohnhöhle“. Wenn ich durch die Mainzer Straße gehe, denke ich bis heute daran, wie er sein Ankommen hier in der Kölner Südstadt erlebt hat. Damals war die Straße ein bisschen verrucht, und seine Frau wurde von Männern angesprochen, ob man nicht „einen Kaffee trinken“ gehen könne. Heute gibt es noch ein Studio für bizarre sexuelle Wünsche in der Mainzer Straße, das zweite private Bordell hat gerade zugemacht.

Der Kreis schließt sich: Der vierte Besuch, das war 2011. Ich war jetzt 41, Wellershoff 86. „Mehr als doppelt so alt“, dachte ich und war immer noch beeindruckt, was dieser Mann vom Leben gesehen hatte. Mittlerweile waren vermeintliche Belege einer Mitgliedschaft in der NSDAP aufgetaucht. Wellershoff kommentierte im ZEIT-Magazin, er habe Abscheu „vor diesen braunen Leuten“ empfunden und könne sich nicht erinnern, etwas unterschrieben zu haben. Mir sagte er damals: „Jeder Gauleiter war gewissermaßen ein König, der in Konkurrenz zu den anderen stand. Da wurden dann auch gerne Fehlmeldungen nach oben weitergeleitet, also es wurden zum Beispiel einfach Neueintritte gemeldet.“

Aufleuchtende und erlöschende Möglichkeiten

Dieter Wellershoff ist jetzt 90 Jahre alt, irgendwann kommt man um den Begriff „Urgestein“ wohl nicht mehr herum. Als ich vor ein paar Tagen an diesem Artikel schrieb, fielen mir aus dem Buch „Der lange Weg zum Anfang“ ein paar DIN-A-4-Seiten entgegen. Es ist ein Essay über den Zufall, den Dieter Wellershoff mir damals, 2007, zum Abschied gab. Und da fiel mir der Satz wieder auf, den ich schon damals so nüchtern, so zutreffend, so ehrlich fand. Es geht um das Leben, um das große Ganze – er hat sich ja nie gescheut, darüber zu reden.

Es sind Geschichten einer allgemeinen Glücks- und Sinnsuche in einem Irrgarten aufleuchtender und wieder erlöschender Möglichkeiten unter der Regie des Zufalls. Alles scheint möglich, doch nur wenig lässt sich ändern. Man zieht die Karten aus verdecktem Stapel und muss versuchen, damit sein Spiel zu machen, bis die schwarze Hand kommt, die alles von der Platte wischt.“

Die Redaktion von „Meine Südstadt“ wünscht Ihnen, lieber Herr Wellershoff, alles Gute und stabile Gesundheit zum 90. Geburtstag. Wir freuen uns, dass Sie diesem Viertel seit Jahrzehnten treu geblieben sind.

Text: Jörg-Christian Schillmöller

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